Vom Wald das Beste. – Nationalparkregion Bayerischer Wald
Vashta Nerada: Die Berge sind sein Wohnzimmer

Vom Wald das Beste

Vashta Nerada: Die Berge sind sein Wohnzimmer

Eigentlich heißt er Ralf. Doch den meisten Leuten - insbesondere denjenigen, die ihn von seiner Facebook-Gruppe „Wandern im Bayerischen Wald“ her kennen – ist er unter dem Namen „Vashta Nerada“ bekannt. Ein etwas seltsam anmutendes Pseudonym, das er sich zugelegt hat, um im Netz so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen, und das auf „Dr. Who“, die wohl älteste Sciene-Fiction-Serie der Welt, zurückgeht.

Vashta Nerada sind mikroskopisch kleine Schwarmkreaturen, die sich in hoher Konzentration vorkommend nicht von Schatten im Wald unterscheiden, erklärt Ralf geduldig bei einer Tasse Kaffee in einem Gasthaus am Fuße des Lusen. Der Berg – genauso wie Arber, Rachel, und viele weitere Bayerwald-Erhebungen - ist sein Wohnzimmer, in dem er bereits viele Spuren hinterlassen hat. Denn der 40-Jährige nutzt so gut wie jede freie Minute dafür, um in der Natur des Bayerischen Waldes unterwegs zu sein.

„Es war eine Entscheidung ohne Grund“, berichtet er mit wachen Augen und nippt von seiner Tasse. Er kannte die Gegend bereits aus Kindheitstagen, als er mit seinen Eltern Skiurlaub im Landkreis Regen machte. Auch aus der Zeit nach der Realschule, als er mit seinem Kumpel einmal von Frankfurt aus zum „Tanzboden“ in den Woid fuhr.  Aus Spaß an der Freude. „Ich weiß nicht, ob ich heute noch so spontan wie früher bin“, sagt Ralf und lacht.

"Es war eine Entscheidung ohne Grund"


Und nachdem es ihm aus freizeitlicher Sicht bereits recht gut hier gefallen hatte, verschlug es den gelernten Energie-Elektroniker, Medieninformatiker und Programmierer auch irgendwann aus beruflichen Gründen in die Region – zunächst nach Deggendorf, wo er zwei Jahre lang als Informatiker Fuß fasste. „Ich war jung und wollte damals einfach weg aus dem Frankfurter Raum, wollte etwas Neues ausprobieren“, erinnert sich Ralf.  Nach einem weiteren 70-Stunden-Job als Projektleiter, bei dem man ihn „blöderweise“ durch ganz Deutschland schickte, landete er schließlich bei einer Firma in Straubing. Ein Glücksfall, der es ihm ermöglichte sich dauerhafter in der Nähe seines geliebten Bayerwaldes niederzulassen.

Doch das Glück währte nicht lange. 2011 brach er während der Arbeit zusammen - wie aus dem Nichts. Im Krankenhaus stellten die Ärzte einen bösartigen Hirntumor bei ihm fest, Ralf musste schnellstmöglich operiert werden. „Die Diagnose war vernichtend. Sie sagten mir, es bestehe keine Chance auf Heilung – mit einer mittleren Lebenserwartung von 16 Monaten.“ Verzweiflung machte sich in ihm und seiner Lebensgefährtin breit. Seine Tochter war zu dem Zeitpunkt drei Jahre alt, das Haus am Fuße des Geißkopfs befand sich gerade im Bau. Eine Welt brach zusammen.

„Ich habe damals viel Unterstützung von Familie und Freunden bekommen“, kann er heute dankbar zurückblicken. „Viele sagten, wir kriegen das auf die Reihe. Aber niemand ist davon ausgegangen, dass ich das überleben werde.“ Nach der Operation lag er zehn Tage im Krankenhaus. „Dann wollte ich endlich wieder arbeiten, das Haus musste fertig werden.“ Ob er „daheim rumsitzt“ oder arbeiten gehe, machte für ihn keinen Unterschied. Die Chemo-Therapie begann. Gleichzeitig schleppte er Ziegelsteine auf der Baustelle und ging wieder seinem Job nach. Alles „nebenbei“, wie Ralf es betitelt, der sich in der Rückschau zum damaligen Zeitpunkt  als „sehr radikal“ einschätzt.

Und ja: Wider allen Prognosen hat er es überlebt. Die zweijährige Therapie zeigte Wirkung. Jedoch zu einem gewissen Preis, denn sie hatte Schäden bei ihm hinterlassen. Nebenwirkungen. Folgeerscheinungen. Seitdem hat er prämotorische Defizite und leidet an einer Konzentrationsschwäche. „Ich kann etwa nicht mehr richtig unterschreiben. Multitasking ist auch nicht mehr möglich.“ Ralf musste lernen, sich mit seiner Situation abzufinden. Eine harte Zeit. Seiner Arbeit kann er bis heute nicht mehr nachgehen. Er gilt als erwerbsunfähig. „Wenn ich unterwegs bin, merkt man mir’s nicht an“, doch der Grad der Behinderung wurde mit dem Wert 80 eingestuft.

"Ich bin jemand, der seine Ziele sehr konsequent verfolgt."

Durch seinen Schicksalsschlag hatte er auch sich selbst besser kennengelernt.  „Ich bin jemand, der seine Ziele sehr konsequent verfolgt. Wenn ich mir in den Kopf setze, unter einer Stunde auf den Arber hochzulaufen, dann übe ich das solange, bis ich es schaffe“, erzählt er heute. Radikalität und Konsequenz. Sein Motto: „Entweder Du lässt Dich ziehen, oder Du ziehst selber.“ Mit seiner Art eckt er oftmals an, sagt er. Doch er möchte jederzeit ehrlicherweise das sagen können, was er denkt. Viele Leute würden genau das an ihm schätzen. Eine gewisse Feinfühligkeit und Diplomatie fehle ihm trotzdem nicht. „Ich habe mir abgewöhnt, ad hoc zu reagieren.“

Sein Alltag daheim als Hausmann gestaltet sich eher klassisch: Essen kochen, den Haushalt machen, sich um die Tochter kümmern. Und wenn diese in der Schule ist, hat er Zeit für sich bzw. dafür, seiner Leidenschaft nachzugehen: Wandern, Laufen und Radeln im Sommer, Schneeschuhwandern und Langlaufen im Winter. „Viele denken, dass ich Schichtarbeiter bin“, sagt er und schmunzelt.

Doch was er als normale sportliche Betätigung erachtet, geht für andere bereits in Richtung Extremsport. Denn Ralf wandert nicht einfach mal eben so gemütlich auf einen der Bayerwaldgipfel hinauf – er läuft, rennt, spurtet nach oben. Als Trail-Läufer ist er bereits mehrere Male in Kitzbühel die legendäre Streif im Rahmen eines Wettbewerbs „hochgelaufen“. Mehr als 800 Höhenmeter vom Start bis zum Ziel. Unter einer Stunde. Sein Ziel für den Sommer lautet: von der Fredenbrücke bei Waldhäuser hinauf zum Lusen in weniger als 50 Minuten. „Irre“ sagen die einen. „Faszinierend“ die anderen. Ralf selbst „geht’s um den Spaß“. Er sieht sich leistungstechnisch „im Mittelfeld“. Extremsport ist seiner Ansicht nach Base-Jumping, nicht laufen.

Er verbringt auch gerne mal eine Nacht draußen im Freien, etwa auf dem Zwercheck, einem seiner Lieblingsberge im Woid. „Ich wolle wissen, wie das ist. Wollte die Ruhe genießen, den Sonnenuntergang beobachten. Das Erwachen der Vögel erleben. Ich hab geschlafen wie ein Stein“, erinnert sich Ralf. Im Gebiet um die Gipfel des Geißkopf, Arber, Falkenstein, Rachel und Lusen, die er von seinem heimischen Balkon aus alle gut im Blick hat, kennt er nahezu jeden Baum, sagt er. „Ich verlasse morgens das Haus und weiß meist noch nicht, wohin mich meine Tour führen wird. Das überlege ich mir dann im Auto.“ Er möchte dabei immer Neues ausprobieren. Wanderwege, die er bis dato noch nicht kannte. Und: „Ich will an meinem Ziel ein Panorama haben.“ Er lege viel Wert auf optisch abwechslungsreiche und idyllische Touren.

"Viele haben heute den Bezug zur Natur verloren."

Das viele Draußen-Sein in der Natur, das er sich während der Chemo-Therapie angefangen hatte, hat seiner Meinung nach auch zu seiner Gesundung beigetragen. „Ja, diese Leidenschaft hat sich in dieser Zeit entwickelt“, berichtet Ralf. Eine Leidenschaft, die er gerne auch in den Sozialen Medien teilt, die ihm zufolge jedoch nicht bei jedem Bayerwäldler vorhanden ist. „Ich verstehe die Leute nicht, die noch nie auf dem Berg vor ihrer eigenen Haustüre waren. Viele haben heute den Bezug zur Natur verloren.“

"Extrem ist, was nicht in der Mitte läuft."

Um hier Abhilfe zu schaffen und Einheimische wie Urlauber für die Schönheit und Faszination des Bayerischen Waldes zu begeistern, hat Vashta Nerada vor ein paar Jahren die Facebook-Gruppe „Wandern im Bayerischen Wald“ ins virtuelle Leben gerufen. Eine Plattform, auf der Wanderbegeisterte insbesondere Fotos von ihren Touren einstellen können. Auch Ralf, dessen Lieblingstour von Lohberg aus übers Zwercheck und den Osser führt, dokumentiert regelmäßig seine Ausflüge. „Meine Handy-Kamera hab ich immer mit dabei.“ Die Mitgliederzahl der Community wächst stetig an – rund 15.000 sind es mittlerweile. „Das Tolle an der Gruppe: Sie bedient den kompletten Bayerischen Wald vom Dreisessel bis zum Hohen Bogen, indem die Leute anderen ihre jeweilige Haustour empfehlen. Der Austausch ist riesig, der Untere und Obere Bayerische Wald wird optimal durchgemischt.“

„Ich bin inzwischen eine halbe Tourstinfo“, sagt Ralf und lacht. Wanderbegeisterte aus dem Münchner oder Regensburger Raum (sowie von weiter her) schreiben ihn via Facebook an und fragen etwa, wie denn die aktuelle Schneelage auf dem Großen Arber sei, da sie gerne am Wochenende zum Schneeschuhwandern kommen würden. Als Administrator der Gruppe kümmert er sich gerne um derlei Anliegen. „Ich bin froh, wenn ich helfen kann. Und ich weiß, dass viele hier gerne Urlaub machen, weil sie in meiner Gruppe sind.“

Drei bis vier Wanderungen, davon zwei Halbtages- und zwei Ganztagestouren, unternimmt er durchschnittlich innerhalb einer Woche. Das entspricht etwa 1.500 bis 2.000 Höhenmeter. Sein Körper wirkt daher drahtig und trainiert. „Jeder Mensch ist in bestimmten Dingen extrem, in anderen weniger“, sagt Vashta Nerada und ergänzt sogleich: „Extrem ist, was nicht in der Mitte läuft. Ich würde mich eher als konsequenten Menschen bezeichnen. Als jemand mit einer dynamischen Lebensstrategie.“

Die Waidler empfindet der gebürtige Hesse als angenehme Zeitgenossen, über die es positive wie negative Vorurteile zu berichten gebe. Ihm zufolge sind sie vor allem bodenständig, ehrlich, ruhig, geradeheraus und „tiefgründiger als man meint“. Keiner mache hier „eine große Show“. Mit der direkten Art, die seinem Naturell entspreche, müsse man klarkommen. Seine Frau, die aus dem Bayerwald stammt, habe einmal mit einem Augenzwinkern zu ihm gesagt: „Wenn Du Glück hast, wirst Du irgendwann ein Bayer, aber ein Waidler wirst Du nie.“ Er jedenfalls fühlt sich nach all den Jahren im Woid hier sehr „dahoam“, wie er auf Bairisch mit mitteldeutschem Einschlag versichert.

Was er in 20, 25 Jahren machen wird, das weiß er heute noch nicht. Was er jedoch aufgrund seines großen Bekanntheitsgrades bei den Bergwirten des Bayerwalds definitiv weiß: „Ich kann mich ohne Worte im Lusenschutzhaus an die Theke stellen. Da oben wissen sie, was ich bestellen will.“ Schupfnudeln mit Wammerl und Kraut zum Beispiel. Ein Gericht, das er selbst auch hin und wieder zu Hause zubereitet - wenn er gerade einmal nicht über die Bayerwaldwogen streift, doch die Sehnsucht nach ihnen groß ist...